Eine essayistische Kurzantwort eines Philosophen.
In Kürze
• Während die eigene Perspektive optimistisch ausfällt, ist jene auf die Gesellschaft düster.
• Gespaltenheit macht anfällig auf Gefolgschaft von Herrschern und Demagogen.
• Mut zu kritischem Urteil und eigene Wege zu gehen.
• Zukunft ein ziemlich neues Konstrukt?
Kürzlich nahm ich überrascht zur Kenntnis, dass Soziologen oder Psychologen – ich weiss es nicht mehr genau – in einer Untersuchung zwei Fragen gestellt hatten, die erste, wie die jeweilige Person ihre eigene Zukunft einschätze, und die die zweite, wie sie die allgemeine, weltweite Zukunft einschätze. Als Ergebnis war eine grosse Diskrepanz festzustellen: Zwar sahen die allermeisten Menschen ihre eigene Zukunft positiv, die Zukunft der Welt jedoch wurde als ziemlich übel vermutet.
Offenbar sind die Optimisten unter uns trotz vieler Diktatoren und Möchtegern-Imperatoren, trotz etlicher Krisen und oft nicht zufriedenstellenden Wahl- und Abstimmungsergebnisse und manchem anderen immer noch deutlich in der Mehrzahl, und offenbar sind die Realisten unter uns, die die Zukunft der Welt als gefährdet ansehen, dies auch.
Also alles paletti – oder?
Allerdings sagt bereits der gesunde Menschenverstand, dass das mittel- und langfristig nicht aufgehen kann: rosige persönliche Zukunft und gleichzeitig desaströse allgemeine Zukunft. Wenn Menschen ihre eigene Zukunft überwiegend positiv sehen, handelt es sich dabei selten um eine nüchterne Überlegung, sondern auch um Wünsche und Vorstellungen. Und wenn sie die Zukunft der Welt, auf der ja auch sie selbst leben, als katastrophal einschätzen, so ist daran neben nüchterner Überlegung auch so einiges an Vorstellungen und Befürchtungen beteiligt.
Eine tiefe menschliche Gespaltenheit
Wir haben also: Hier die Morgenröte über der eigenen Zukunft mit ihren Versprechungen, da ein Orkus der Ängste über der Zukunft der Welt und der Menschheit. Allerdings ist beides ja dieselbe Zukunft, nur aus unterschiedlicher Perspektive. Dass wir dies zwar wissen, aber so häufig nicht fühlen, ist in der Tat eine zutiefst menschliche Gespaltenheit: In unserem kreatürlichen Egoismus, dem Willen, zunächst einmal für sich selbst und die Unseren zu sorgen ist diese bereits enthalten. Die persönlichen Wunschvorstellungen und Ängste mögen zwar irrational sein, sind aber ungefährlich.
Problematisch werden sie in den Händen von Demagogen, die eine Bevölkerung verleiten können – ohne dass die es merkt – mithilfe von grossartigen Wunschvorstellungen oder grauenhaften Schreckensvorstellungen. Beides sind die Katalysatoren für starke Emotionen und Verwirrungen.
Mut zu kritischem Urteil, zu neuen Wegen
Zu unserer Gesundheit gehört es, neben unseren Wünschen und Befürchtungen ein klares, gut begründetes Urteil angeben zu können. Wenn wir das halbwegs können, sind wir auch weniger anfällig für die Verführungen von Wünschen und die Schrecknisse von angsterregenden Vorstellungen.
Hilft uns das allein? Sicher nicht, denn niemand kann uns den genauen Weg in die Freiheit angeben. Also braucht es neben dem kritischen Urteil auch Mut zu einem „richtigen Leben im falschen“, das es zwar nach Adorno nicht geben kann, dass wir aber dennoch finden müssen. Etwas zu finden, das es nicht geben kann, heisst seit Thomas Morus Utopie, denn „Utopia“, also „Nirgendland“ nannte er die Insel, auf der ein völlig anderer Gesellschaftsentwurf verwirklicht war als im England seiner Zeit. Mit solchem Mut, in irgendeiner Hinsicht anders zu leben und andere dazu zu inspirieren, finden der persönliche Optimismus und der allgemeine Realismus zusammen.
Gesellschaftliche Zukunft, eine ziemlich neue Vorstellung
Man sollte beim Bedenken des scheinbaren Widerspruchs zwischen der Beurteilung der persönlichen und der allgemeinen Zukunft noch etwas berücksichtigen: Eine genaue Idee davon, was irdische Zukunft unabhängig vom eigenen Leben ist, haben wir erst seit dem 19. Jahrhundert. Die Grundlagen dazu finden wir zwar schon bei Johann Gottfried Herder und Immanuel Kant, z.B. bei seiner „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“. Aber in einer Weise, wie sie den gestellten Fragen gemäss ist, haben sich Philosophen erst seit dem 19. Jahrhundert mit der allgemeinen Geschichte und der menschlichen Zukunft auseinandergesetzt, so insbesondere Karl Marx [er betrachtet allgemein gesellschaftliche und ökonomische Entwicklungen und projiziert sie auf die Zukunft] und Friedrich Nietzsche [er betrachtet anthropologische, moralische und theologische Entwicklungen in der Geschichte]. Die Zukunft ist also eine recht neue Sache. Und es lohnt sich, für uns alle darüber nachzudenken.
Lektüreempfehlung zum Thema Zukunft:
Möchtest du das Thema in einer philosophischen Beratung vertiefen, dann bist du hier richtig.
Willst du keine der neuen Fragen verpassen? Dann abonniere hier den Newsletter.
Stand: Januar 2025.