Fragen an einen Philosophen
 
Kurzer Essay & Buchempfehlung

Wie können wir mit zunehmender Unsicherheit umgehen?

Eine essayistische Kurzantwort eines Philosophen.

In Kürze


• Sicherheit ist ein früh angelegtes Bedürfnis.
• Der Rechts- und Sozialstaat, der Sicherheit schafft, ist zunehmend bedroht.
• Heterotopie: Eine bewusste Auszeit schafft Distanz.
• Nebst der Distanzierung, braucht es auch Aktion.

Der erste Aspekt dieser Frage scheint mir der zu sein, ob es überhaupt eine philosophische Frage ist. Denn die Antwort wird – wie sie auch lautet – in der Lebenspraxis liegen, da sie das menschliche Handeln betrifft. Sie ist darum eine Frage der praktischen Philosophie und eine ethische Frage, und die Analyse, wie es zu dieser Unsicherheit kommt, geht sogar über diese hinaus in die Sozialphilosophie und die Politische Philosophie. – Die Frage hat philosophisch also ihre Berechtigung.
   

Wie können wir mit zunehmender Unsicherheit umgehen? Ein Mann, der auf schmelzendem Eis, die Arme in den Kopf wirft


Woher kommt das Bedürfnis nach Sicherheit?

Wir suchen nur in der Regel Sicherheit, weil es – gerade in der Jugend – durchaus Phasen gibt, in denen wir das Risiko und das Abenteuer suchen, als Heilmittel gegen die Langeweile oder zur Sinnsuche. Sicherheit ist uns also manchmal nur in Portionen lieb. Haben wir uns allerdings für eine bestimmte Richtung im Leben entscheiden oder gar einen Lebenszusammenhang aufgebaut, ist es uns ganz recht, wenn dieser sicher ist, wenn nicht plötzlich die Freundin / der Freund uns verlässt, die Stelle gekündigt wird, ein mir nahestehender Mensch sehr krank wird oder gar stirbt.

Eine Frau von hinten, die ein Kind hochhält


Spätestens dann wird uns bewusst, dass jedes Leben viel an Unsicherheit beinhalten kann, auch wenn ich nicht auf Abenteuer- oder Sinnsuche bin. Um diese normalen Lebensrisiken zu minimieren, wurde in den letzten Jahrhunderten im Westen ein Rechts- und Sozialstaat aufgebaut, der natürlich auch seine Schattenseiten hat, z. B. Steuern, zahlreiche Regularien, Bürokratie, der aber insgesamt dazu dient, die Unsicherheit, in der die Menschen leben, zu reduzieren.

Unsicherheit durch totalitäre Scheindemokratien

Wenn man jedoch erlebt, wie in vielen Ländern Menschen durch ihre Wahl Parteien stark machen oder Politiker an die Macht bringen, deren erklärte Absicht es ist, diesen Rechts- und Sozialstaat zu zerstören zugunsten eines oligarchischen Systems, einer totalitären Scheindemokratie oder einer offenen Diktatur, dann ist einem unwohl und man fühlt sich zunehmend unsicher, selbst in einem scheinbar so sicheren, stabilen Land wie der Schweiz. Denn leider sind auch hier diese Kräfte da und treiben ihr Spiel.

Ein wütender Mann am reden, dahinter ein Parlament, das glücklich und traurig zuschaut


Wenn dann – wie jetzt – ein Krieg in der Nachbarschaft hinzukommt und ein menschenverursachtes Naturphänomen wie der Klimawandel uns bedroht, etwas, was viele dieser Kräfte leugnen und die US-Regierung derzeit als „Religion“ bezeichnet, dann wissen auch wir: Wir sind Betroffene und leben in unsicheren Zeiten. Aber wir wissen es nicht nur, wir fühlen es auch, und das hat Auswirkungen auf die, die offen dafür sind.


Wie dieser Unsicherheit begegnen?

Die Stoiker würden hier apathía empfehlen, Unempfindlichkeit dagegen, sich von Emotionen mitreissen zu lassen. Man kann sie als Gefühle zur Kenntnis nehmen, sollte aber die Kontrolle behalten. Diese apathía bedeutet also nicht Unempfindlichkeit gegen Gefühle, sondern soll eine Voraussetzung zum Umgang mit ihnen schaffen. Besser als das übliche Verdrängen der durch die zunehmende Unsicherheit wachsenden Angst ist sie allemal. Aber ist dieses „Heilmittel“ überzeugend, selbst wenn wir es nicht als Ratschlag zur Apathie missverstehen?

ein Junge, der nachdenkt


Unser Problem ist, dass wir die Weltsituation kaum zu ändern vermögen, also sollten wir solche Leidenschaften wie Wut und Verzweiflung, die uns letztendlich lähmen, vielleicht im Zaum halten, aber was sollten wir tun? Sollten wir dem Hinweis von Boccaccios Decamerone folgen?

Heterotopie: eine bewusste Auszeit schafft Distanz

Während der Pest in Florenz, so schildert Giovanni Boccaccio im Decamerone, entschliessen zehn junge Leute sich, in ein Landhaus fern der Stadt zu gehen und dort zehn Tage mit dem Erzählen von Geschichten zu verbringen. Danach gehen sie – seelisch gestärkt – zurück nach Florenz. Eine Flucht aus der Welt ist nicht möglich, aber die Inszenierung einer humanistischen Heterotopie – wie Michel Foucault sie im Unterschied zur „Utopie“ nennen würde: eine bewusst geplante und verbrachte Auszeit, eine Gegenwelt, die eine Distanz zur mitreissenden Wirkung der Emotionen ermöglicht und durch das gemeinsame Erzählen unsere Mitmenschlichkeit stärkt.

eine Frau im Inneren des Hauses


Empört euch!

Aber reicht ein solcher kommunikativer Rückzug unter Gleichgesinnte? Oder sollten wir uns gegen das engagieren, was uns in diese Lage gebracht hat und versuchen, Widerstand zu leisten? Stéphane Hessel, einer der Mitunterzeichner der Erklärung der Menschenrechte, schrieb mit 93 Jahren in seiner Streitschrift „Empört euch!“:

 


Neues schaffen heißt Widerstand leisten.
Widerstand leisten heißt Neues schaffen.

Das hiesse also, die ersten beiden Varianten, die zwar eine seelische Stärkung, aber keine äussere Veränderung zum Ziel haben, würden nicht reichen und wir müssten Emotionen auch als Motivationen verstehen, etwas zu tun, auch wenn das mit mehr Unsicherheit in unserem Leben verbunden ist.

 


  • Michel Foucault: Die Heterotopien. Der utopische Körper,  Berlin 2005/2013.
  • Giovanni Boccaccio: Das Decameron. Frankfurt a. M. 2008.
  • Stéphane Hessel: Empört euch! Berlin 2011.


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Stand: Februar 2025.