Fragen an einen Philosophen
 
Kurzer Essay & Buchempfehlung

Warum machen wir Selfies?

Eine essayistische Kurzantwort eines Philosophen.

In Kürze


• Mit zerstreutem Erfassen schaffen wir sinnliche und begriffliche Wahrnehmung.
• Doch gelingt dies bei uns selbst? Eher weniger.
• Das Umkreisen unserer Identität und das spielerische Suchen.


Wahrnehmung beruht auf zwei Säulen, der sinnlichen und der begrifflichen: Wir nehmen etwas wahr, wie zum Beispiel einen Vogel, aber damit wissen wir noch nicht, welcher Vogel das ist. Erst wenn wir diesen Schlüssel, den Namen, erfahren haben, haben wir Zugang zu dem übrigen Wissen über diesen Vogel.

Bild eines Vogels


Zerstreutes Erfassen

Eine andere Form des Erfassens ist das „zerstreute Erfassen“, wie ich es nennen möchte. Wir machen vielerlei Fotos vom Gegenstand in seiner Umgebung. Dazu vielleicht noch Erinnerungen daran, in welchem Zusammenhang er uns aufgefallen war und welche anderen Qualitäten, bei Vögeln z. B. das Verhalten oder der Gesang, er hatte.

Mit dem „zerstreuten Erfassen“ sammeln wir also Merkmale, die uns indirekt – über das Gespräch mit einer Fachperson, über eine Webseite, eine App oder ein Fachbuch – auch zum entsprechenden Namen und weiteren Informationen führen können.

Zerstreutes Erfassen, warum machen wir Selfies?


Zerstreutes Erfassen: Warum machen wir Selfies?

Eine andere Form des zerstreuten Erfassens ist die des Sich-Spiegelns in immer wieder anderen Weltausschnitten. Hierbei liegt der Fokus nicht auf den Gegenständen, diese stellen nur eine Art Dekoration dar, um mich selbst auf immer wieder andere Weise in diese Welt einzubetten und zu spiegeln. Es geht bei diesem Erfassen also um mich selbst. Aber dieses Erfassen ist grundlegend anders: Ich habe nicht irgendwann den Namen des Gegenstands und somit weiteres Wissen. Denn was hier gesucht wird, ist das Selbst.

Und die Suche nach ihm endet nicht mit einem klaren Begriff. Allerdings endet sie heutzutage nicht nur nicht, sondern wir gehen auch gar nicht davon aus, dass uns irgendetwas wesentlich näher zu ihm hinführen kann. 

Eine Frau und ein Mann schauen ihr Spiegelbild an


So sind die vielen Selfies mit anderen, in schönen Landschaften, beim Sport, beim Kochen und sonst wo keine Mosaiksteine, die sich irgendwann zu einem ganzen Bild zusammenfügen, denn dieses Ganze ist unrettbar verloren:

»Wir glauben heute nicht mehr an jene falschen Fragmente, die, wie Stücke antiker Statuen, darauf harren, zusammengefügt und geleimt zu werden, um neuerlich eine Einheit zu bilden. Wir glauben weder an ursprüngliche, vorgängige Totalität, noch an eine zukünftige, die uns irgendwann erwartet.«

[Gilles Deleuze / Felix Guattari: Anti-Ödipus: Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt / M. 1974, S. 54.]


Die Suche nach unserer Identität

Unser Beispiel einer Suche des Namens wie die des Vogels ist die Suche nach seiner Identität. Aber gerade in unserer heutigen globalen Welt ist im menschlichen, gesellschaftlichen und politischen Bereich Identität genauso unrettbar verloren wie das Selbst.

So bleibt nur noch, das eigene Selbst oder andere „Identitäten“ zu umkreisen, mit Selfies, Beschreibungen, Geschichten, die ansatzweise Wichtiges zum Ausdruck bringen und so etwas aussagen, ohne sich selbst oder Identitäten definitiv fassen zu können.

Frau, die ein Selfie macht


Geschichten erzählen, spielerisch die Identität finden

Geschichten können Zusammenhänge vermitteln, darum spielen sie eine besondere Rolle bei der Selbstkonstitution oder dem Herstellen von mythologisch verankerten Identitäten wie Völkern oder Gemeinschaften. Mythen, Epen, Märchen, Sagen – all diese Narrationen sind typisch für bestimmte Gegenden und Gemeinschaften und tragen dazu bei, wie sie sich verstehen. Doch was das diese Menschen Verbindende genau ist, bleibt ein Geheimnis und damit offen.


Das Nicht-ganz-Ernst-Nehmen der ganzen Suche nach dem Selbst und den Identitäten, z. B. durch Selfies, ist ein Mittel, diese Offenheit zu erreichen und sie nur als ein Mittel zu sehen, sich selbst zu erzählen, nicht aber sich zu definieren.



Lektüreempfehlung zum Thema: 

  • Byung-Chul Han: Die Krise der Narration, 2. Aufl. Berlin, 2023.
  • Zygmunt Bauman: Flüchtige Moderne, Frankfurt am Main 2003.



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Stand: Januar 2025.